Navigation auf uzh.ch

Institut für Hausarztmedizin

Problem bei der Umsetzung und «Task Shift» in der Grundversorgerpraxis

Aufgrund des hohen Betreuungsaufwandes und der Komplexität ihrer Situation kann die Betreuung multimorbider und chronisch kranker Patientinnen und Patienten nur interprofessionell geleistet werden:

  • Hausärztinnen und Hausärzte können in einem solchen Betreuungsteam den Lead bei der Beurteilung neu aufgetretener Krankheiten beim chronischen Patienten («acute-on-chronic»), beim Aufgleisen neuer Behandlungen und beim Initiieren der koordinierten Betreuung nehmen.
  • Advanced Practice Nurses (APNs)  leisten Patienten- und familienzentrierte Behandlung und Betreuung, prüfen Medikationlisten, gehen auf Haus- und Heimbesuche und helfen bei ethischen Entscheidungsfindungen.
  • Medizinische Praxiskoordinatorinnen (MPKs) klinischer Ausrichtung monitorisieren Therapieeinstellungen, beraten, instruieren und informieren Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige (zum Beispiel Umgang mit Insulin-Pen, Blutzuckermessung, Ernährung und Bewegung etc.).
  • Physiotherapeutinnen und -therapeuten können eine wichtige Rolle in der Beratung und Begleitung bezüglich Bewegung und Erhalt der Funktionalität (inklusive Alltagsaktivitäten) spielen.
  • Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialarbeitende leisten wichtige Betreuungsarbeit bei entsprechenden Problemen.

Die Liste ist nicht abschliessend. Das Merkmal solcher Zusammenarbeit, die sich selbstverständlich auch nach ausserhalb der Arztpraxis erweitern kann (z.B. Apotheke, Pflegende), ist das Aufteilen der Betreuung je nach entsprechender beruflicher Kompetenz und zeitlicher Ressourcen, der sogenannte «task shift» oder «skill mix» bei der Versorgung komplex und chronisch kranker Patientinnen und Patienten. Obwohl ein erfolgsversprechendes Modell, braucht es für eine solche Zusammenarbeit die entsprechenden gut funktionierenden (digitalen) Kommunikationskanäle, personelle wie finanzielle Ressourcen (z.B. eine adäquate Tarif-Regelung) und die Bereitschaft/Einstellung der Berufsleute, miteinander zu arbeiten. Hier klafft zwischen Modell und Umsetzung noch eine erhebliche Lücke. Auch die Politik ist hier gefordert [1].

Bei der konkreten Betreuung chronisch und komplex Kranker dürfen natürlich auch die Angehörigen nicht vergessen werden, die häufig extrem wertvolle Arbeit bei der Koordination der Betreuung und bei der alltäglichen Unterstützung der Betroffenen leisten. Allerdings sind sie oft im gleichen Alter wie die älteren Kranken, selbst durch chronische Krankheit in ihren Funktionen eingeschränkt und damit gefährdet, dass sie sich durch die Pflege der/des Angehörigen selbst überlasten. Wie schwierig die Betreuung «am richtigen Patienten, durch den richtigen Betreuenden, im richtigen Mass, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit» [2] in der Umsetzung sein kann, und wie rasch trotz allen guten Absichten die vielen Behandlungen zur Belastung werden können, illustriert das folgende Beispiel:

Stellen Sie sich eine 80-Jährige Patientin vor, die an polyarthrotischen Gelenksschmerzen und den Folgen von osteoporotischen Frakturen leidet und sich nur mühsam im Alltag fortbewegen kann. Zudem besteht ein Diabetes mellitus, eine arterielle Hypertonie und moderates Übergewicht. Sie ist latent depressiv und leidet an Schlafstörungen. Ihr Ehemann ist schon über 80 und leicht dement, im Haushalt ist er keine grosse Hilfe. Ins Pflegeheim wollen die beiden nicht; die erwachsenen Kinder leben im Ausland. Das Betreuungsteam hat eine Langzeit-Unterstützung mit täglicher Spitex, 3x wöchentlicher Haushaltshilfe, wöchentlicher Physiotherapie und 2x monatlichen Arztkonsultationen aufgebaut. Dazu kommen Zahnarztbesuche, Fusspflege und nun will die Diätberaterin auch noch einen Termin, im Auftrag der Hausärztin. Geht die Patientin ausser Haus, muss sie eine Nachbarin zur Aufsicht für ihren Ehemann organisieren. All die Besuche und Aktivitäten bringen eine enorme Unruhe ins Haus, die Patientin kommt gefühlt nie richtig zur Ruhe und fühlt sich überlastet. Ein Patentrezept in dieser Situation gibt es wohl nicht – eine gewisse Sensibilität gegenüber des «burden of treatment», Zurückhaltung mit Betreuungsaktivitäten und eine gute Koordination derselben würden hier schon viel helfen.

Abschliessend noch ein paar praktische Instrumente für die Patientenführung:

  • Das ICAN-Tool der Mayo-Klinik zur Einschätzung, wie gut eine Betreuung zur momentanen Lebenssituation passt, wo sie als hilfreich und wo sie belastend empfunden wird: 
  • Das Tool «Gesundheitscoaching»: Beim Gesundheitsverhalten vom aktuellen Bedarf zu Zielen und konkreten Massnahmen
  • Fünf Fragen, mit denen Patientinnen und Patienten eine mögliche Behandlung kritisch hinterfragen und sich damit am Entscheidungsprozess beteiligen können

Referenz

  1. Senn O, Neuner-Jehle S. Was braucht es für eine massvolle und patientenzentrierte Medizin?
    Gastkommentar «Politik+Patient» 2/2024 (S. 2). Zum Artikel (PDF, 2 MB)
  2. Rosemann T, Neuner-Jehle S, Muheim L. Versorgungsforschung: das richtige Mass an Medizin, zum richtigen Zeitpunkt für den richtigen Patienten. Ther Umsch. 2017;73(1):827–831